Fokus

Eigentlich wollte ich nicht darueber schreiben. Jetzt mache ich es doch, denn ich weiss nicht, wie ich irgendetwas schreiben soll ohne es zu beschreiben.

Mein Chef ist krank seit zwei Monaten. Richtig krank. Er hat Tumore am Rueckenmark, die mittlerweile seine Nerven geschaedigt haben. Heisst, er kann abwaerts der Brust seine Haut nicht mehr spueren und seine Beine nur noch ziemlich unkontrolliert bewegen. Krebs ist es nicht aber eine extrem seltene Sache, sodass keiner weiss, wie es weitergeht oder auch nicht.

Er ist noch keine 40 Jahre, hat mit seiner Partnerin vier kleine Kinder im Alter von zehn bis vier Jahren. Sportlich, die Familie isst nur Bio und gute Sachen.

Und dann sowas.

Freitag habe ich ihn nach zwei Monaten wieder gesehen, er kam ueberraschend ins Buero. Mit Rollator und Hilfe seiner Partnerin. Es taete ihm gut, sich hier ein bisschen normal zu fuehlen, sagt er, waehrend er mir Zugriffe auf Datenbanken und Passwoerter und kleine Kniffe zeigt. Nach eine Stunde kommt seine Partnerin um ihn wie verabredet abzuholen. Er kann nicht so lange sitzen.

Gib uns noch etwas Zeit, bittet er sie, wir sind noch nicht fertig und ich fuehle mich gut. Sie nimmt den Vierjaehrigen an die Hand und verspricht, bald wiederzukommen.

Er haette sich abgefunden damit, Paraplegiker zu sein, erklaert er mir. Doch seit dem Wochenende merke er, dass das Gefuehl in seinen Armen schwindet. Er wurde erst weiter unten an der Wirbelsaeule operiert, daher wollen sie in Vancouver nichts machen. Am Montag hat er einen Termin in Ottawa, da wollen sie feststellen, ob er vielleicht fuer die Cyber-Knife-Methode in Frage kommt. Da wird mit hoher oertlicher Dosis Bestrahlung operiert statt mit einem Messer.

Fuer alles, was kommt, ist er vorbereitet. Falls er weder Arme, noch Beine bewegen kann, soll der Stecker so schnell wie moeglich gezogen werden. Ohne Reue blickt er zurueck „What a great life!!!“ Nur findet er es schade, dass er seine Partnerin vielleicht mit der Erziehung der vier Kinder allein lassen muss. Das ist ein grosser Job. „Wir haben so viel Zeit, Aufmerksamkeit und Liebe investiert in die Erziehung der beiden Aelteren und man sieht bereits, wie sich das auszahlt. Ich weiss nicht, ob eine Person alleine den Kleineren so viel Aufmerksamkeit bieten kann. Das ist die einzige Sache, die mich beschaeftigt.“

Seine Ernaehrung habe er auch umgestellt, er isst jetzt keto, nur noch 20 Gramm Kohlenhydrate maximal pro Tag. „Das heisst, du kannst Kaese essen, oder?!“ frage ich freudig. „Ja genau, ich esse Berge von Kaese.“ Sofort hole ich mein dickes Stueck Kaese (heute ein Tomme de Chevre des Alps) aus meiner Tasche, das ich sonst zu Mittag gegessen haette und biete es ihm an. „Vielleicht ein kleines Eckchen… hast du ein Messer?“ „Ja, habe ich, aber beiss doch einfach ab. Du kannst alles haben, ich hab noch mehr davon.“ Zwei Minuten spaeter ist vom Kaese nichts mehr uebrig, es scheint zu schmecken.

Schliesslich kommt auch die Partnerin wieder, jetzt ist es Zeit zu gehen. Wir gehen zur Tuer um sie hereinzuwinken, er sitzt auf seinem Rollator vor der Tuer und schaut heraus. Sieht ernst zu mir hoch und breitet einen Arm aus. Ich beuge mich herunter und wir umarmen uns.

Vielleicht war es das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Vielleicht koennen sie ihm helfen, dass es nicht noch schlimmer wird. Ich wuensche ihm und seiner Familie von Herzen das Beste.

Dass er ohne Reue lebt, finde ich ganz toll. Fuer wie viele Leute waere so eine Krankheit eine Gelegenheit um festzustellen, dass man nicht den eigenen Weg im Leben gegangen, sondern der Umstaende wegen so viele Kompromisse eingegangen ist, dass man nicht mehr weiss, wer man eigentlich ist.

Vor fast zwei Monaten ist ein lieber Freund von mir in Deutschland gestorben.

Vor zwei Monaten habe ich angefangen zu laufen. Mit einer Minute laufen, mehr ging nicht. Jetzt kann ich 30 Minuten laufen. Morgen will ich fuenf Kilometer schaffen.

In diesem Leben will ich eine gesunde und glueckliche Version meiner selbst sein. Es gibt keine Ausreden, kein Gejammer. Ich mache es oder ich lasse es.

Ich bin hier. Und hier bin ich genau richtig.

Nicht bereit, mich zu verbiegen. Bereit, alle Herausforderungen anzunehmen.

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Ich. Eine Seite meiner Haare sind abrasiert. Das bin ich und das ist mein Weg

28 Comments

  1. Jarrrnarrr

    ❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤❤

  2. Wow. Das ist hart. Aber dein Chef tut gut darin, nichts zu bereuen und sich nur um die Lücken zu sorgen, die er hinterlassen wird. So mit so einem Schicksalsschlag umzugehen, dass braucht echt Stärke. Respekt! Dir noch viel Glück mit deinem Laufprogramm und ihm noch viel Glück bei der Bekämpfung des Krebs (durch ihn selber und andere).

    • Luisa

      Lieben Dank, Gerry!
      Ich bin auch sehr beeindruckt, wie er mit der Situation umgeht. Da kann man viel von lernen.
      Danke für die guten Wünsche und dir eine gute Woche 🙂

    • Luisa

      Dankeschön, das ist lieb von dir! 🙂
      viele Grüße aus dem Yukon!

  3. Moin, moin Luisa,
    was für ein trauriges Schicksal hat Deinen Chef ereilt und mit welcher Größe erträgt er es.
    Diese Geschichte hat mich zutiefst berührt.
    Sie zeigt wieder einmal wie wichtig es ist in der Gegenwart zu leben, jeden Moment zu genießen und die Umsetzung seiner Träume nicht auf die lange Bank zu schieben, sondern sie auszuleben so gut es eben machbar ist.
    Liebe Grüße
    Jens

    • Luisa

      Hallo Jens,
      Das hast du schön auf den Punkt gebracht, genauso empfinde ich das auch. Hab eine schöne Woche!
      Liebe Grüße,
      Luisa

      • Danke Luisa,
        ich wünsche Dir auch eine schöne Woche.
        Liebe Grüße
        Jens

  4. ....

    Mein Gott ja. Wie recht du mit allem hast….

  5. Luisa

    Super, dann laufen wir bald zusammen! 😀 ich finde irre, dass 30 min laufen genauso schwierig ist wie die eine Minute am Anfang. Der Körper ist schon toll, wie er sich anpassen kann.

    • Luisa

      Eher wie bei der Hochzeit zwischen Miffy und Jungfer Marian:
      Ameeeeeeenuuuuum

  6. Was für eine traurige Geschichte ! Das tut mir sehr leid für deinen Chef und seine Familie .
    Deine Frisur ist cool.Gefällt mir . Und was hast du für schöne Tattoos auf dem Arm ? Ich kann es nicht erkennen. l.g.Anja und Thor

    • Luisa

      Ja, da habt ihr beiden recht, es ist sehr traurig aber auch irgendwie troestlich, dass er so stark und bei sich sein kann in dieser Situation.
      Danke fuer das Kompliment! 🙂 Ist wahrscheinlich nicht der landlaeufige Geschmack aber wenn’s uns gefaellt ist das schon genug 😉
      Auf meinem Arm sind Berge, Waelder, ein grosses Bison und auf der Innenseite ein Hochofen, alles hinterlegt mit Nordlichtern.
      Mein Arm ist der Grund, dass ich ueberhaupt in den Yukon kam. ich hab mich gefragt ob es irgendwo Nordlichter, Berge, Waelder und Bisons gibt, weil ich das alles so gern mag. Ich dachte vielleicht Alaska aber da sind die Bisons noch nicht wirklich wieder angesiedelt. Im Yukon gibts zu viele, deswegen bin ich hier her und hab direkt Tyrel kennengelernt!
      Liebe Gruesse,
      Luisa

      • Danke für die Erklärung des Tattoos . Ein schönes Motiv. Zur Frisur , wen interessiert die landläufige Meinung ? ich habe auch Side und Undercuts und die Drckhaare sind inzwischen Schulterlange Dreads , auch nicht das wie landläufig eine Oma rimläuft.Na und ! l.g. Anja

        • Luisa

          Jupp, du bist ein heisser Feger! 😀
          Ich hab meine letzten Dreads abgeschnitten, als mir gesagt wurde, dass ich in der konservativsten Abteilug im Stahlwerk als erste Frau anfangen soll… da wusste ich ich hab andere Kaempfe zu kaempfen.
          Und jetzt ist mir aufgefallen, dass ich wieder darf! 😀 Hier juckt es keinen.
          Liebe Gruesse,
          Luisa

          • Luisa

            Jupp. Im Yukon fuehlte ich mich zum ersten Mal nicht angestarrt, obwohl ich durch die Stadt gegangen bin mit langem schwarzen Mantel, Springelstiefeln und nem Elbsegler auf dem Kopf bei 183 cm Koerpergroesse. Da kann man doch mal glatt auswandern, wenn man sich so wohl fuehlt! 🙂
            Habt noch eine schoene Woche und ich hoffe bald mal wieder was von euch zu lesen.

  7. der neue look ist sicher nur formalismus. das laufen ist toll. wenn es dir wichtig ist, kannst du sicher für die kinder deines chefs was tun, ein ritual erheben, was immer du mit ihnen machst – und wenn man ein deutsches essen gemeinsam kocht. dass ist sicher tolle hilfe, pass auf dich auf

    • Luisa

      Hi Mom,
      das ist eine gute Idee mit dem Ritual. Allerdings muss ich dazu sagen, dass ich die Kinder gar nicht kenne. Einmal den Vierjaehrigen fuer 20 Sekunden sehen zaehlt da glaub ich nicht…
      Ich hab mir gedacht ich frage im Kaeseladen nach, ob die Familie dort bekannt ist und bezahle einen Kaese vor, die die Familie beim naechsten Einkauf dann extra bekommt. 🙂
      Kaese ist Liebe! <3

  8. Virtual Language Lighthouse

    Danke fürs Teilen, Luisa! Die Weisheit, die sich aus Begegenungen wie diesen und der daraus folgenden Reflexion ergibt ist das Leben pur. Ja, it is your life! Live the way you like it. Ich wünsche Deinem Chef und seinen Kindern ganz viel Kraft und Mut. Und Käse. ❤️

  9. Virtual Language Lighthouse

    Mutig und selbstbestimmt durchs Leben zu gehen, so wie Dein Chef, das finde ich wichtig. Ich bin so froh, dass ich den Hintern hoch gekriegt hab und die Unterlagen für Kanada zusammen gesucht hab….! Hier blühen wir alle richtig auf, genau wie Du im Yukon wusstest, dass das Dein Weg ist. Klasse Sache! Ich bin auch gespannt, wie es bei Dir weiter geht! Liebe Grüße aus Nova Scotia,
    Nadine

  10. Joe

    Mensch Luisa, ich hab bald geheutl. Die Story mit Deinem Chef ist einfach berührend. Thumbs up. Wir durchleben momentan auch eine Achterbahn der Gefühle. Ich werde morgen meinen Job kündigen, ohne irgendeine Sicherheit. Sprich: wenn CIC nicht aus den Puschen kommt, sthee ich bald ohne Job und Geld da.

    Aber: das Leben leben heisst nicht, dass alles glatt geht, gell? Daher machen wir das jetzt einfach so. Wir leben das Leben, welches UNS gefällt, Du machst es auch und das finde ich toll. Ein Tattoo habe ich auch schon. 🙂

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